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Balanceakt auf Mauerkronen

Bereits im letzten Heft (Die Pforte #75) ließ uns der leitende Architekt und Ehemalige Holger Siegel (al. port. 1984 – 1988) durch seinen detaillierten Bericht zur Kernsanierung des zentralen Schulgebäudes am Baugeschehen teilhaben. 12 Monate später (Stand November 2023) erhalten wir von ihm einen Einblick in den Baufortschritt und dürfen lesen, welche Arbeiten, vor allem im Inneren des Dachs über der Aula, stattfanden.

 

Innerhalb des Schulgebäudes schreiten die Arbeiten voran. Nicht mehr benötigte Einbauten und Trennwände wurden abgebrochen, ein Teil der seit Jahrzehnten ungenutzten Schornsteine und Luftschächte für die künftige Medienversorgung geöffnet. Auch die Decken zum obersten Geschoss mussten geöffnet werden, um nicht mehr gebrauchte Einbauten eines früheren Umbaus zu entfernen. Aus dieser konstruktiven Freilegung gewonnene Erkenntnisse fließen nun in die Erstellung des zweiten großen Leistungsverzeichnisses für Rohbauarbeiten ein, um ab kommendem Frühjahr die statische Ertüchtigung von Mittel- und Südflügel anzugehen. Eine geschossweise Durchführung ermöglicht das sukzessive Folgen der Arbeiten zur technischen Gebäudeausstattung. 

Die große technische Herausforderung in diesem Jahr war die Sanierung der Decken- und Dachkonstruktion über der Aula. Das Reparieren geschädigter Deckenbalken, Pfetten und Sparren gehört zwar zu den Standards in der Denkmalsanierung, zumal es für fast jede Situation eine zimmermannstechnische Lösung gibt. Jedoch war allen Beteiligten von Anfang an klar, dass die intakte und reich verzierte Kassettendecke der Aula nicht zum Standard gehört und eine Reparatur der sie tragenden und von ihr umschlossenen Balken kein Spaziergang werden würde. 

 

Abb. 1: Dachtragwerk über der Aula mit bestehenden Stahlrahmen zur Stabilisierung, 2019, ABML architekten GmbH

Abb. 1: Dachtragwerk über der Aula mit bestehenden Stahlrahmen zur Stabilisierung, 2019, ABML architekten GmbH

 

Das Dach und die Decke der Aula werden hauptsächlich von vier mächtigen, hölzernen Gebinden, sogenannten Hängewerken, getragen. Von unten gesehen zeigen sie sich in den quer die Aula überspannenden hölzernen Unterzügen, deren Zwischenräume die besagte Kassettendecke füllt. Entlang der Wände wird die Spannweite dieser Balken durch schräge, auf Sandsteinkonsolen ruhenden Holzstützen reduziert, aus denen schön gearbeitete Dreiviertelplastiken von Lehrer- und Schülerfiguren geschnitzt sind (Abb. 5). Die Unterzüge werden in den Drittelpunkten zusätzlich von darüber liegenden Hängesäulen gehalten. Deren Kräfte werden von schräg nach außen gerichteten Stuhlstreben zurück auf die Enden des Balkens übertragen, die wiederum auf sogenannten Mauerlatten in den Außenwänden lagern. Diese Mauerlatten wurden im Laufe der Zeit durch eingedrungene Feuchtigkeit so stark geschädigt, dass entschieden wurde, an ihrer Stelle feuchtigkeitsresistente Stahlbetonbalken einzubauen, um die einwirkenden Kräfte künftig gleichmäßig abzuleiten und die Mauerkronen zu stabilisieren. Dazu mussten zuerst der untere Teil der Dacheindeckung sowie die obere Lage der Traufgesimse abgenommen werden. Nur so konnte die nötige Baufreiheit zur Sanierung hergestellt werden. Da das Dach während der gesamten Sanierung weiterhin auf den Mauerkronen ruht, musste abschnittsweise vorgegangen werden. Der neue Betonbalken wurde zuerst zwischen den Gebinden eingebaut und der eingebrachte Bewehrungsstahl mit Schraubverbindungen versehen, um die noch verbliebenen Lücken unter den Gebinden anschließen zu können. Die untere Gesimslage wurde stabilisiert und mit Gewindeeisen fixiert.

 

Abb. 2: Sanierung der Mauerkrone, Einbau der Bewehrung für den Betonbalken, 2023, ABML architekten GmbH

Abb. 2: Sanierung der Mauerkrone, Einbau der Bewehrung für den Betonbalken, 2023, ABML architekten GmbH

 

Um jedoch die Auflager der Gebinde selbst sanieren zu können, müssen vorher die in ihnen wirkenden Kräfte umgeleitet werden. Erst dann können die darunter liegenden Mauerlatten entfernt und der neue Betonbalken geschlossen werden. Eine temporäre Abstützung durch die Aula und die darunter liegenden Geschosse wäre mit erheblichen Eingriffen, vor allem in den Gewölben der Bibliothek, verbunden. Zudem ergab die statische Nachberechnung, dass die Gebinde hoffnungslos überlastet sind, obwohl vor etwa zwanzig Jahren Stahlrahmen eingezogen wurden, welche die voranschreitende Durchbiegung des Dachs aufhalten und die Außenwände stabilisieren sollten. Es musste also eine substanzschonendere Lösung gefunden werden. Mehrere Wochen rechnete der Statiker an komplexen Modellen, um einerseits das Tragwerk dauerhaft zu entlasten und andererseits dafür zu sorgen, dass die Kräfte während der Auflagersanierung seitlich in die Außenwände abgeleitet werden. Das Ergebnis ist eine komplexe Choreografie aufeinanderfolgender Arbeitsschritte.

Die bereits vorhandenen Stahlrahmen, die ursprünglich nur der Stabilisierung dienten (Abb. 1), spielen dabei eine wichtige Rolle. Um einen Teil der Deckenlast aufzunehmen, die bisher allein vom Hängewerk getragen wurde, mussten die Querschnitte der beidseitig anliegenden Stahlprofile verstärkt und miteinander verbunden werden. Da Schweißen aus Brandschutzgründen in Pforte grundsätzlich auszuschließen ist, wurden alle Verbindungen geschraubt. Von den neu eingebauten Verbindungsblechen wurden hunderte Vollgewindeschrauben von bis zu 120 Zentimeter Länge in die darunter verlaufenden Unterzüge getrieben, um eine gleichmäßige Kraftübertragung vom Balken in den Stahlrahmen zu gewährleisten.

 

Abb. 3: Profilverstärkung der Stahlrahmen und Verschraubung der Deckenbalken, 2023, ABML architekten GmbH

Abb. 3: Profilverstärkung der Stahlrahmen und Verschraubung der Deckenbalken, 2023, ABML architekten GmbH

 

Diese Konstruktion soll einerseits in Zukunft das Dachtragwerk dauerhaft sowie zuverlässig entlasten und andererseits eine temporäre Lastbefreiung der jeweils zu sanierenden Auflager ermöglichen. Dazu bedurfte es einer weiteren Hilfskonstruktion, bestehend aus einem Stahlrahmen, diversen Stahlträgern und Klammern, sowie mehrerer Holzstützen und -rahmen, um das gesamte Gebinde zu stabilisieren und die zu erwartenden Kräfte zu verteilen. Mitte Oktober wurde das erste von insgesamt acht Auflagern lastfrei gestellt. Zwei Hydraulikpressen hoben bei einem Öldruck von bis zu 120 Bar den Stahlrahmen der Hilfskonstruktion um ganze drei Zentimeter an, um den Unterzug gerade einmal zwei Millimeter über seinem Auflager schweben zu lassen. Aus diesen Werten errechnete der anwesende Prüfstatiker eine über mehrere Wochen zu haltende Last von 17 Tonnen, bis das neue Betonauflager eingebaut und tragfähig ist. Da die ausführende Firma gleich zwei dieser Hilfskonstruktionen angefertigt hat, können jeweils zwei Auflager gleichzeitig entlastet und saniert werden, was die Bauzeit erheblich halbiert. 

 

Abb. 4: Die temporäre Hilfskonstruktion zur Lastfreistellung der Auflager, 2023, ABML architekten GmbH

Abb. 4: Die temporäre Hilfskonstruktion zur Lastfreistellung der Auflager, 2023, ABML architekten GmbH

 

Während der Auflagersanierung müssen auch zwei der Unterzüge im Auflagerbereich zurückgeschnitten und mit einer Art Prothese instandgesetzt werden, da sie schwere Schäden durch Schwammfäule aufweisen. Speziell entworfene, zehn Millimeter starke Stahlbleche werden den zurückgeschnittenen Balken und das Ersatzholz dauerhaft miteinander verbinden. Dabei wird der Fußpunkt der ebenfalls in diesen Bereich von oben kommenden Stuhlstrebe neu verschraubt. Der dafür nötige Ausbau von Teilen der Kassettendecke und der Balkenverkleidung aus geschnitzten Eichenbohlen erwies sich dagegen einfacher als angenommen. Die bemalten Holzprofile und Bretter ließen sich relativ leicht entfernen. Sie wurden nummeriert und im Anschluss wieder eingebaut. Bis zum Frühling sollen so alle acht Auflager vollständig saniert, die ausgebauten Traufgesimse wieder eingebaut und das Dach geschlossen werden.

 

Abb. 5: Balkenkopfsanierung am Auflager der Deckenbalken, 2023, ABML architekten GmbH

Abb. 5: Balkenkopfsanierung am Auflager der Deckenbalken, 2023, ABML architekten GmbH

 

HOLGER SIEGEL

AL. PORT. 1984 1988